Wie lässt sich Unruhe sichtbar machen, ohne sie direkt als Störung wahrzunehmen? Ausgehend von einem Silent Walk und der Installation the womb (2025) nähere ich mich dieser Frage über künstlerisch-praktische und theoretische Zugänge mit Bezug zu Donna Haraway (Haraway 2018). Anhand einer Höraufgabe und dokumentierter Beobachtungen untersuche ich, wie sich Unruhe im Spannungsfeld zwischen individuellem Empfinden und räumlicher Rahmung erfahrbar machen lässt und welche Anschlussmöglichkeiten sich daraus für eine Auseinandersetzung im schulischen Kontext ergeben.
Wie können Momente der Unruhe im schulischen Kontext sichtbar gemacht werden? Welche Rahmung braucht es, damit diese Momente der Unruhe sichtbar werden – und wie könnten sie zur Grundlage künstlerisch-gestalterischer Prozesse werden?
Um mich diesen Fragen anzunähern, habe ich im Kontext meiner künstlerischen Praxis kleine Hörexperimente entwickelt, die zur künstlerisch praktischen Auseinandersetzung einladen. Ergänzt wurden diese durch eine begehbare Kuppelinstallation the womb (2025), die im Rahmen des Open Studios Rundgangs 2025 an der HBK Braunschweig zugänglich war. Die aus rosafarbenen Stoffen gestaltete Kuppel (siehe Abb.1) bot mit beheizter Decke sowie variablen Sitz- und Liegemöglichkeiten einen Rückzugsraum, in dem die Audioarbeit in konzentrierter Atmosphäre erfahrbar wurde.
Abb. 1 Le Thuc Anh Mai, the womb, 2025, Foto: Medea Feidieker.
Abb. 2 Le Thuc Anh Mai, the womb, 2025 (Innenansicht), Foto: Medea Feidieker.
Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist ein Workshop-Format, welches Wenke Topola, Lina Rabe, Philipp Kapitza und ich im Sommer 2023 im Rahmen des kunstpädagogischen Seminars Zusammenleben unterschiedlicher Lebensformen im Kontext Schule an der HBK Braunschweig entwickelt und im Februar 2024 in der Spore Initiative e.V. in Berlin durchgeführt habe.
Im Zentrum dieses Workshop-Formats stand der Silent Walk: Die überwiegend aus Berliner Lehrkräften bestehende Gruppe bewegte sich schweigend durch den öffentlichen Raum, angeleitet von Moderationskarten, die dazu einluden, den leitenden Personen still zu folgen. Ein musikalisches Signal markierte jeweils den Beginn und das Ende des gemeinsamen Weges durch den angrenzenden Park. Hierbei erzeugte der Verzicht auf Sprache eine spezifische Form der Aufmerksamkeit: Gesten, Blicke, minimale Interaktionen rückten in den Vordergrund. Das gemeinsame Gehen wurde zu einem geteilten Erfahrungsraum, in dem eine Form von Nähe entstehen konnte, die sich jenseits des verbalen Gesprächs entfaltete.
Gleichzeitig offenbarte sich ein Spannungsverhältnis zwischen der inszenierten Ruhe des Formats und einer individuell erlebten Unruhe, die sich schwer benennen ließ, aber körperlich spürbar wurde. Unruhe wurde hier demnach nicht als gesellschaftliches oder schulisches Problem verhandelt, sondern als individuelle Empfindung, bei der sie als innere Bewegung oder körperliche Anspannung Ausdruck fand. Diese Verschiebung öffnet den Blick auf Unruhe als produktiven Denk- und Erfahrungsraum. Mich interessiert daher, wie Unruhe sowohl im schulischen als auch im künstlerischen Feld als ästhetisch-performatives Moment erfahrbar gemacht und gestalterisch ausgehandelt werden kann, anstatt sie als Störung zu markieren. Gerade im schulischen Kontext eröffnet dieser Perspektivwechsel neue Möglichkeiten, Unruhe nicht als Defizit, sondern als produktiven Impuls für gemeinsames Lernen und ästhetische Erfahrung zu begreifen.
Was ist Unruhe?
Aus einer allgemein-sprachlichen Perspektive werden im Duden dem Begriff der Unruhe fünf verschiedene Bedeutungsebenen zugeordnet (Duden o.J.):
Erst im Verhältnis zur Ruhe kann Unruhe überhaupt sichtbar werden. Ihre Erscheinung ist deshalb nie losgelöst vom jeweiligen Kontext, sondern immer verknüpft mit Erwartungen, Zuschreibungen und den Rahmen, in denen sie sich zeigt. Diese Rahmenbedingungen finden Anschluss an das Konzept der Sympoiesis, welches die Biologin und feministische Theoretikerin Donna Haraway in ihrer Monografie Unruhig bleiben (2018) formuliert. Sympoiesis beschreibt Haraway als einen Prozess, der nicht aus sich selber heraus entsteht, sondern aus einer Vielfalt von Bedingungen und Akteur*innen abhängig ist: „Nichts macht sich selbst, nichts ist wirklich autopoeietisch oder selbst-organisierend“ (Haraway 2018: 85). Unruhe entsteht nicht einfach in einer Person, sondern zwischen ihr und ihrer Umgebung. In diesem Zwischenraum, in der Beziehung zu einem Kontext, zu einem sozialen Gefüge, zu einem bestimmten Rahmen wird Unruhe überhaupt erst erfahren. Haraways Konzept der Sympoiesis macht deutlich, dass es für die Wahrnehmung der Unruhe nicht nur um das Was, sondern auch um das Wie und Wo geht. Entscheidend ist also, welche Rahmenbedingungen sie sichtbar machen (oder unsichtbar halten). Das heißt, Unruhe entsteht nicht einfach nur in uns, sie entwickelt sich in und aus einem bestimmten Zusammenhang heraus und sie steht zu diesem in Beziehung. Damit wird es möglich, Unruhe als Hinweis zu erleben, mit dem die kontextspezifischen Rahmenbedingungen einer Situation in den Fokus gerückt werden können (bzw. die Bedingungen, unter denen wir etwas als Unruhe wahrnehmen, zulassen (und aushalten).
In Hinblick auf den Ausgangsmoment des Silent Walks kann Unruhe also als Hinweis gelesen werden. Wird der Fokus nun erneut auf den schulischen Kontext gelenkt, zeigt sich, dass auch dort, die Rahmenbedingungen für Aushandlungsräume der Unruhe nicht isoliert zu betrachten sind, sondern unbedingt zwischen dem Kontext der Schule, der Kunst und der Gesellschaft vernetzt werden müssen (denn wie wir bei Haraway festgestellt haben, ist es unabdingbar die Unruhe unter gewissen Rahmenbedingungen zu kontextualisieren). Diese theoretischen Überlegungen lassen sich anhand meiner Installation the womb (2025) konkretisieren, die im Rahmen des Open Studios Rundgangs 2025 der HBK Braunschweig realisiert wurde. Darin lud eine begehbare Kuppel Besucher*innen dazu ein, nach dem Ausziehen der Schuhe einen Innenraum zu betreten, der mit Kissen, einer beheizbaren Decke sowie verschiedenen Sitz- und Liegeflächen ausgestattet war. Mir fiel besonders auf, wie verschieden die Besucher*innen auf den Moment des Schuheausziehens reagierten. Während einige zögerten und unsicher waren, ob sie überhaupt in die Kuppel eintreten wollen, erschien es anderen einfacher, die Schuhe ruhig auszuziehen und in den Innenraum einzutreten. Im weiteren Verlauf beobachtete ich zudem, wie sich die anfängliche Stimmung in der Kuppel verändert hat. Anfangs wirkte vieles noch unruhig und suchend. Manche Besucher*innen fanden sich in kleinen Gruppen zusammen und begannen lebhafte Gespräche über ihre Kindheit, Träume oder alltägliche Rituale zu führen. Andere nutzten die Sitz- oder Liegeflächen, um sich zurückzuziehen und für einen Moment die Augen zu schließen.
Die Hördatei, welche einen sich wiederholenden Herzschlag wiedergab, schuf eine besondere Raumatmosphäre. In ihr nahm ich eine andere, subtilere Form von Unruhe wahr, die nicht im Widerspruch zur Atmosphäre stand, sondern ein Teil von ihr wurde. Diese zeigte sich vor allem darin, dass viele Besucher*innen immer wieder ihre Sitz- oder Liegeposition wechselten, sich im Raum umsahen oder leise miteinander sprachen. Die Gespräche waren meist kurz und zurückhaltend, immer wieder entstanden Pausen, in denen die Aufmerksamkeit erneut auf die Klänge der Hördatei gerichtet war. Manche wirkten nachdenklich oder abwartend, andere beschäftigten sich mit den vorhandenen Materialien oder suchten einen Moment des Rückzugs. Es entstand dabei keine vollständige Stille oder völlige Rast, wie man es in typischen Ruheräumen erwarten könnte. Stattdessen entwickelte sich eine besondere Mischung aus leisen Bewegungen, Zurückgezogenheit und aufmerksamem Zuhören. Für mich lag die Qualität der Atmosphäre gerade in diesem Zusammenspiel. Die Installation machte sichtbar, wie unterschiedlich die Besucher*innen auf den Raum reagierten und wie sich diese stillen, aber beständigen Formen von Unruhe als Teil der gemeinsamen Erfahrung zeigten.
Aus meinen Beobachtungen ergibt sich der Eindruck, dass die Installation ähnlich wie beim Silent Walk (2023) keinen Zustand von Ruhe im akustischen, sinnlichen Verständnis herstellte, sondern vielmehr einen Raum eröffnete, in dem unterschiedliche Formen von Unruhe sichtbar wurden. Unruhe erschien dabei nicht als Störung, sondern als etwas, das sich im Verlauf mit den gesetzten Rahmenbedingungen der Installation (hier: Rauminstallation und Hördatei) sowie den inneren Bedürfnissen, individuellen, persönlichen Emotionen der Besucher*innen und Gruppenkonstellationen zusammenkommen und als produktiver Erfahrungsraum erlebbar werden konnte.
Hördatei zur Installation the womb, 2025
Höraufgabe: Unruhe hörbar machen
Wie können Momente der Unruhe sichtbar gemacht werden? Welche Rahmung braucht es, damit diese Momente der Unruhe im schulischen Kontext sichtbar werden können? Wie könnte die Unruhe zur Grundlage künstlerisch-gestalterischer Prozesse verwendet werden?
Wenn Unruhe also an bestimmte Rahmen gebunden ist und sich nur innerhalb dieser sichtbar und erfahrbar macht, möchte ich an dieser Stelle einladen, bei der folgenden Hörübung mitzumachen und zu versuchen, der Unruhe eine Form zu geben. Du bist herzlich eingeladen, die Übung selbst durchzuführen.
Höre dir dazu die Audios in zwei Durchgängen an (ein Durchgang ist ca. 5 min lang):
1. Höre die Audiodatei zunächst einmal vollständig und lasse sie einfach auf dich wirken (möglichst mit geschlossenen Augen).
Was hörst du? Welche Assoziationen/ Reaktionen löst die Audio in dir aus?
2. Beim zweiten Hören weißt du bereits, was dich erwartet. Nun bist du eingeladen, auf das Gehörte unmittelbar zu reagieren. Halte Gedanken, Empfindungen oder Bewegungsimpulse fest (z.B. als Notiz, Skizze oder körperliche Bewegungen etc. – andere Ausdrucksformen sind immer willkommen!).
Es gibt keine Vorgabe, wie deine Reaktion aussehen muss. Wichtig ist nur, dass du dir erlaubst, eine Form für das zu finden, was sich möglicherweise in dir bewegt. Vielleicht entsteht etwas, vielleicht bleibt etwas vage.
Wie geht es weiter?
Die Übung ist kein abgeschlossener Beitrag, sondern ein möglicher Einstieg in eine körperlich-sinnliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Unruhe. Ähnlich wie es im Silent Walk erprobt wurde, eröffnet das Hörexperiment die Möglichkeit, eigene Reaktionen wahrzunehmen und diesen Ausdruck zu verleihen. In ihrer Offenheit knüpft sie an das zuvor beschriebene Verständnis von Unruhe als kontextabhängiges und relationales Moment an. Die Höraufgabe knüpft hierbei besonders an das gemeinsame Gehen im Silent Walk an und verlagert dort wahrgenommene Aufmerksamkeit auf die individuelle Wahrnehmung und Reaktion.
Welche Bewegungen, Widerstände oder Irritationen treten auf? Welche Bedeutung bekommt Unruhe in dem Moment, in dem sie hörbar, spürbar oder sichtbar wird? Welche Bedingungen waren notwendig, damit diese Empfindung überhaupt zugelassen werden konnte? Und wie lassen sich diese Erfahrungen in einen schulischen oder künstlerischen Zusammenhang übertragen, ohne sie direkt in eine Funktion zu überführen?
Mit dem Beitrag möchte ich dich als Leser*innen dazu einladen, an diese Fragen anzuknüpfen und weitere Erfahrungsmomente künstlerisch-praktisch zu entwickeln. Die hier beschriebenen Übungen sind offene Versuche, die nicht als abgeschlossen verstanden werden, sondern sich immer wieder erweitern und verändern lassen.
Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main: Campus.
Duden (o. J.): Unruhe, in: Online-Duden, Wörterbuch [online] https://www.duden.de/node/190082/revision/1378439 [abgerufen am 14.05.2025].