Dreieck

Beziehungsweisen (ver)antworten: listen_walk_translate.

listen_walk_translate ist ein künstlerisch-forschendes Format, das ich seit 2022 in verschiedenen Konstellationen und Kontexten gemeinsam mit anderen erprobe und weiterentwickle. Anlass des Formats ist die Sensibilisierung der Wahrnehmung der Beteiligten. Ziel ist es, kollektive Bewusstwerdungsprozesse anzuregen sowie heilsamere Umgangsformen mit den je eigenen Erfahrungen in einer von Krisen durchzogenen Welt zu entwickeln. Das Framing des Formats sieht vor in einer sich situativ zusammengefundenen Gruppe zu schweigen, sich gehend Raum anzueignen und das Erlebte zu übersetzen.

Dem künstlerischen Format listen_walk_translate möchte ich mit David Abram, Erika Fischer-Lichte, Donna Haraway, Pauline Oliveros und Andreas Weber fünf theoretische Positionen zu Grunde legen. Unterschiedliche Erfahrungen mit dem Format werden nachfolgend mit diesen theoretischen Positionen zusammengelesen, um auf dieser Grundlage eine Handlungsanleitung einzuführen.

1. Die belebte Erde ist in ihren tiefsten Wesenszügen empfindsam. Nach Andreas Weber begreife ich sie als Sphäre, in der „menschliche Subjekte nicht mehr von anderen Organismen geschieden sind, sondern ein Flechtwerk existenzieller Beziehungen bilden – ein ziemlich reales ‚Netz des Lebens‘“(vgl. Weber 2016/2018: 42).

2. Mit Verweis auf David Abram ist in Anknüpfung hieran unsere Wahrnehmung leibgebunden und stets in Reziprozität zu den wahrgenommenen Dingen und Wesen. Letztere lässt sich begreifen, wie ein stilles Gespräch, oder ein ständiger Dialog, der sich bereits weit unterhalb des verbalen Bewusstseins entfaltet (vgl. Abram 1996/2017: 52f). Die Ausgeprägtheit unserer Sinne ermöglicht uns demnach mit der Welt in Austausch zu sein und bestimmt, wie diese auf uns einwirkt. Analog hierzu wird nach Pauline Oliveros das, was gehört wird durch die hörende Person verändert, so wie sie selbst durch das Gehörte verändert wird: „Listening shapes culture, locally and universally. Listening is directing attention to what is heard, gathering meaning, interpreting and deciding on action(Oliveros 2022/2024: 30).

3. In „Ästhetik des Performativen“ weist Erika Fischer-Lichte auf die besondere Kontingenz zwischenmenschlicher und mehr-als-menschlicher Begegnungen hin. Ein wichtiger Faktor für die Transformation der an Performances beteiligten Personen sei das Spiel mit den Rahmenbedingungen und deren Kollision. Ob das Eingreifen oder Nicht-Eingreifen einer Person in die Rahmenbedingungen als Gelingen oder Scheitern einer Performance aufzufassen ist, ist kontextspezifisch zu bewerten (vgl. Fischer-Lichte 2004: 34f). Hierin erkenne ich ein richtungsweisendes Potenzial, um, mit Donna Haraway gesprochen, gemeinsam mit anderen Responsabilität zu erproben. Im Sinne der Mit-Werdung die Fähigkeit zu entwickeln, in Beziehung zu treten, zuzuhören und zu antworten sowie Handlungsfähigkeit zu erlernen (vgl. Haraway 2016/18: 22f).

Das Potenzial der Begegnung und das damit verbundene In-Bewegung-Versetzen erlernter Umgangsformen mit anderen möchte ich mit dem künstlerischen Format listen_walk_translate aktivieren. Grundvoraussetzung hierfür ist die Gruppe; entscheidend das Zusammenspiel der drei ineinandergreifenden Phasen (listen, walk, translate). Soll mit Rahmenbedingungen gespielt werden und sollen Kollisionen als konstruktiv erlebt werden, so ist es von Bedeutung wie gespielt wird. Bevor ich die Anleitung und den Ablauf des Formats teile, möchte ich zuletzt noch eröffnen, welche besondere Relevanz ich den unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Format zuschreibe.

Abb. 1 Foto: Ana Vukmirović, Institut für Zukünfte, 2024


listen_walk_translate.

listen Als systemisch in das Netz des Lebens eingebundene Körper haben menschliche Handlungen stets Auswirkungen auf andere Körper. Im Sinne der Sensibilisierung der Selbst- und Fremdwahrnehmung ist ein zentraler Aspekt des künstlerischen Formats das Schweigen. Der Zustand des Schweigens kann und soll eine Irritation der alltäglich gewohnten Handlungsmuster herstellen und verschiebt gleichzeitig die Handlungsmöglichkeiten. Dies kann mitunter herausfordernd sein und Alertness hervorrufen, also eine erhöhte Reaktionsbereitschaft auf Umweltreize herstellen.

walk Der Aspekt des (Spazieren-)Gehens innerhalb einer schweigenden Gruppe ist geknüpft an die Idee der Begegnung und die durch sie evozierten Fragen. Konstituiert sich für den Moment der Performance eine stille Gruppe als fremdartiger Körper im belebten Städtischen Gefüge? Wie wirkt sie auf andere? Wie navigiert sie durch architektonische Körper, vorbei an Tauben und Hunden, Bäumen und Wiesen, Fahrrädern und Autos? Und wie wirken – im Sinne der Reziprozität – all diese Akteur*innen wiederum auf das Mikroklima dieses sich schweigend fortbewegenden Gefüges ein?

translate Eine gemeinsame Textproduktion in Folge des Walks hat sich als hilfreiches Tool herausgestellt etwaige Fragen sichtbar zu machen, sowie Erlebtes, also Gedachtes oder Gemachtes, Gesehenes, Gehörtes oder Gerochenes, Berührtes oder Gefühltes nachvollziehbarer zu machen. Sie ermöglicht in einem ersten Schritt die unmittelbaren Einflüsse festzuhalten und sich zu den vorangegangenen Situationen in Bezug zu setzen; und dient in einem nächsten Schritt als erkenntnisbringender Referenzpunkt für weiterführende (kollektive) Reflexionsprozesse.


listen_walk_translate.
eine anleitung

Die folgende Anleitung dient als Framework und kann je nach Kontext und Teilnehmer*innengruppe abgewandelt oder erweitert werden. Jede beteiligte Person sollte den Ablauf kennen sowie darüber aufgeklärt werden, dass während des Formats Wahrnehmungsverschiebungen auftreten und Unerwartetes eintreten kann. Es empfiehlt sich, auf den Gebrauch von mobilen Endgeräten zu verzichten, um eine erhöhte Aufmerksamkeit herzustellen. Zudem sollte auf die unbedingte Eigenverantwortlichkeit aller Teilnehmer*innen hingewiesen werden sowie auf die Möglichkeit, das Format zu jedem Zeitpunkt beenden und verlassen zu können. Es hat sich hierfür als sinnvoll herausgestellt, in der Zeit der Durchführung eine ausgewiesene Bezugs- bzw. Awarenessperson zu ernennen.


listen_walk_translate.
der ablauf

1. Ich möchte dich einladen einen Stift und ein Blatt Papier zu finden sowie eine Gruppe von Menschen, einen ruhigen Ort und einen längeren Zeitraum*.
2. Ermittelt, sobald ihr euch zusammengefunden habt eine Person (oder mehrere), die die Gruppe anleiten möchte(n).
3. Mit dem Verweis das Sprechen einzustellen, eröffnet die anleitende Person(engruppe) das Schweigen, und verlässt den Ort mit dem Ziel nach einem längeren Zeitraum** dorthin zurückzukehren.
4. Sobald die Gruppe zurückgekehrt ist: Findet euch in einem Kreis ein. Eine Person notiert auf dem Blatt Papier an oberster Stelle einen Gedanken und faltet es so, dass die nächste Person den notierten Satz nicht lesen kann. Sie überreicht sodann das Blatt Papier einer Person ihrer Wahl. Dieser Schritt wird wiederholt, bis alle einen Gedanken notiert haben (oder die Möglichkeit dazu hatten). Eine Person nimmt das Blatt Papier an sich, faltet es auf und liest den Text vor. Sie überreicht in der Folge den Text einer anderen Person, um diesen ein zweites Mal vorzulesen.
5. Mit dem Vorlesen des Textes ist das Schweigen gebrochen. Tauscht euch nun über eure Erfahrungen und empfundenen Herausforderungen aus.
6. Bedankt euch beieinander für euer Vertrauen. Das Format ist nun beendet.

*Empfohlener längerer Zeitraum: 100 Minuten.
** Empfohlener längerer Zeitraum: 60 Minuten.

Abram, David (1996/2017): The Spell of the Sensuous. Perception and language in a more-than-human world. New York: Vintage Books.

Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag.

Haraway, Donna (2016/2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt/Main: Campus Verlag.

Oliveros, Pauline (2022/2024): Quantum Listening. Padstow: Silver Press.

Weber, Andreas (2016/2018): Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuch einer Poetik für das Anthropozän. Berlin: Matthes & Seitz.

Zitationsvorschlag

Kapitza, Philipp (2025): Beziehungsweisen (ver)antworten: listen_walk_translate, in: Silke Ballath, Konstanze Schütze (Hg.), Onlineplattform | situierung zwischen 2023 [online] https://situierungzwischen.net/dreieck/beziehungsweisen-verantworten-listen_walk_translate/ [letzter Zugriff: YY.YY.YYYY].