Nicht nur die gesellschaftlich auferlegten Regeln gilt es zu prüfen, sondern auch die eigenen. Als sich meine künstlerische Praxis vom Zweidimensionalen ins Eindimensionale verlor, stand ich vor einer Wand. Welches Entkommen gibt es aus der eigenen Denk- und Schaffensroutine? Die Spieltheorie half mir, aus dem selbst gewählten Ernst herauszukommen und den Blick vom eigenen Sorgennabel zu lösen, um wieder über den Tellerrand schauen zu können. Der Text folgt meiner persönlichen Erfahrung im künstlerischen Arbeiten und beleuchtet, wie der wiederentdeckte Spieltrieb Einfluss darauf hatte.
Vor etwa zwei Jahren zur Sommerzeit hatte ich prächtig schlechte Laune. Diese Stimmung hatte ich mir mit Bedacht und Fleiß herangezüchtet. Schloss ich die Augen, dann sah ich, was sich in meinem Gehirn abgespeichert hatte, durch akribische, stundenlange Recherche: Rotoren, Rohöl, Schnürstiefel, Schlachterschürzen, blaugespitzte Brandgeschosse. In Armagnac ertränkte Singvögel, Foren voller faschistoider Fanatiker. Abholzung des Regenwalds, Hahnenkampf und Kain und Abel. Schlechte Gewinner und ewige Verlierer.
Es mag an der Tagesschau liegen oder an einer philosophischen Denker*innenschule aus vergangener Zeit; wenn ich an Vernunft, Tatsachen oder an die Wahrheit dachte, dann dachte ich an reine Vernunft, harte Tatsachen und unbequeme Wahrheiten. In mir gab es das Gefühl, möglichst viele Schweinereien ans Licht holen zu müssen, denn das „Böse“ gab es und man durfte es für keine Sekunde aus den Augen lassen. Also forschte ich nach allem, was einem einen Knoten in den Bauch macht. Diesen Beobachtungen wollte ich etwas Elementares und Allgemeingültiges abringen. Vielleicht konnte man so etwas besser verstehen und daraus lernen.
Auch meine Arbeitsweise im Kunststudium passte sich dieser Grundeinstellung an. Ich zeichnete mit schwarzer Tinte auf weißem Papier, keine Hilfsmittel, kein Radiergummi, kein Lineal. Ich trug dabei weiße Handschuhe, weil ich den kleinsten Fleck, die kleinste Abstufung zwischen Schwarz und Weiß nicht ertrug. So entstanden kleinformatige Zeichnungen über das Übel der Welt.
Für eine Weile blieb das interessant und bescherte mir ein paar Gedanken; die ich froh bin, gehabt zu haben. Irgendwann jedoch merkte ich, wie ich anfing, am Grund des Fasses ohne Boden zu kratzen. Unvermeidlich, wenn man sich nur mit einer Seite der Medaille auseinandersetzt. Das führte nicht nur dazu, dass ich immer düsterlauniger wurde, es begann auch irgendwann ein bisschen peinlich zu werden. Einmal machte ich eine Zeichnung, die nicht nur nicht besonders schlau war, sondern auch unangenehm selbstgefällig. Das alles war zu ernst, zu langweilig und half niemandem wirklich, mir schon gar nicht. Unzufrieden und bedrückt telefonierte ich mit einem guten Freund, um meiner Frustration Luft zu machen. Wir kamen zu dem Schluss, dass die Schwarzweißmalerei ein Ende nehmen musste. Er riet mir, ich solle wieder mehr spielen, denn darin sei ich ja gut.
Das Spielen hatte mich schon davor beschäftigt. Während der Teilnahme am Seminar „Zusammenleben verschiedener Lebensformen“ (2023–2024) hatten meine Kommilitonin Le Thuc Anh Mai und ich ein Kartenspiel als Seminarbeitrag entwickelt. Das Spiel zielte darauf ab, Barrieren im Kennenlernen zwischen Menschen abzubauen und das Miteinander durch Impulse in eine gewinnbringende Richtung zu lenken. Wir entwickelten verschiedene Charaktere, die ihre Fähigkeiten auf die Spielenden übertragen, und ihnen dabei helfen sollten, über ihre eigenen Grenzen hinauszuwachsen.
Wir gingen von der Annahme aus, dass das Spiel eine Art geschützten Raum im Raum darstellen könnte. Beim Recherchieren für eine Hausarbeit über das Projekt stieß ich auf eine Theorie, die unsere Vermutung unterstützte. Der Spieltheoretiker Johan Huizinga beobachtete, dass mit der Eröffnung eines Spielfelds eine Veränderung mit den Akteur*innen vor sich geht. Die Welt des Spiels ordnet sich der „tatsächlichen Welt“ über: Solange das Spiel andauert, scheinen die Teilnehmer*innen das Außen zu vergessen. Deshalb kann uns ein Fußballturnier so in den Bann schlagen, ein Partie Schach zur Weißglut treiben und ein Fantasy Buch uns verzaubern. Dieses sich ein-, bezaubern-, vereinnahmen-, in den Bann schlagen lassen bezeichnet Huizinga als den „Heiligen Ernst“ (Huizinga 1938: 27). Jedoch geht für ihn der Begriff des Spiels über den Freizeitvertreib hinaus. „Das Kinderspiel von Himmel und Hölle und das Schachbrett unterscheiden sich formell nicht vom Tempel oder vom Zauberzirkel“ (Huizinga 1938: 29). Es geht also vor allem um die Grenzen, die gezogen werden. So entstehen Räume, die es ermöglichen, einen bestimmten Zustand zu erleben, der auch in uns nachhallt, wenn das Spiel geendet ist. Im Fall unseres Kartenspiels war dieser Zustand Geselligkeit und Verbundenheit.
Daran wollte ich anknüpfen und ich begann ein neues Spiel zu entwickeln. Die erste Anregung gab mir eine Zeichnung, die ich dieses Jahr angefertigt hatte mit dem Titel „New Uncertainties demand new Rituals“. Auf ihr waren zwei voreinander kniende, kostümierte Figuren zu sehen, deren Köpfe durch ein Brett gesteckt sind, in dessen Mitte ein Glas steht. Beide Figuren versuchen Kirschen in das Glas zu spucken (Abb. 1). Noch konnte ich nicht genau sagen, warum mich dieses Bild reizte, ich fasste aber Vertrauen in meinen Spieltrieb und spielte. Mein Motiv hatte ich schon, nur der (Spiel-)Rahmen fehlte mir noch.
Es traf sich, dass ich zu der Zeit sehr unter Liebeskummer litt, das heißt, ich litt darunter nicht verliebt zu sein. Schnell standen mir Rührungstränen in den Augen; bei romantischen Filmen und wann immer ich ein Gedicht oder Tagebuch schrieb, klebten mir die Blätter vom pappsüßen Gesäusel quasi an den Händen fest. Normalerweise hätte ich diese Stimmung nie in meine Kunst mit einfließen lassen. Doch nun, da ich mich selbst damit beauftragt hatte, ein Spiel nach meinen Vorstellungen zu entwickeln, konnte ich auch Voraussetzung, Einsatz und Ziel bestimmen. Das rituelle Spiel sollte, so beschloss ich, etwas „Schönes“ hervorbringen, einen Zugewinn an Liebe. Der großen Bedrohung, dem immer anstehenden Untergang, musste etwas entgegengesetzt werden. So entstand die Performance „UNSTERN 111“.
Die Performance beginnt wie jedes Spiel mit dem Entschluss, es zu spielen. „Unstern 111“ ist darauf ausgelegt, von zwei Personen gespielt zu werden, die ein „liebendes“ Verhältnis zueinander haben. Ob Verliebte, Geliebte, Affären, Pärchen oder Ehepartner*innen ist dabei egal. Diese klare Begrenzung ist notwendig: sie fokussiert die Art, wie das Spiel gespielt wird, auf eine bestimmte Weise. Jede Handlung, die im Spiel durchgeführt wird, geschieht in Zusammenarbeit mit einer geliebten Person, und nicht als Wettkampf zwischen zwei Widersachern. Als nächstes muss das Spielfeld, der Zauberzirkel aufgebaut werden. Dazu dienen eigens für die Performance angefertigte Gegenstände, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Zum Set gehören: Kostüme, eine hölzerne Spielfigur in Gestalt eines griesgrämig dreinschauenden Sterns, Räucherkerzen, ein Stück Kreide, eingelegte Kirschen mit Stein, eine Spielanleitung und ein Holzbrett mit Aussparungen an den Enden, durch die man den Kopf stecken kann, mit einem Loch in der Mitte, in das ein Wasserglas passt (Abb. 2).
Mit der Kreide zieht man eine Linie zwischen sich und dem Publikum, die eine klare Abgrenzung schafft. Die Räucherkerzen erweitern durch ihren Duft diesen Spielbereich und transportieren den Innen- in den Außenraum. Die Kostüme bestehend aus Maske, Mütze und Umhang bieten den beiden (Schau-)Spieler*innen einen Rückzugsort und Schutzraum, der ihre Anonymität wahrt und so helfen soll, sich von der Außenwahrnehmung abzuschotten. Die gestalterischen Elemente wie die Ornamente und Symbole auf den Umhängen sowie der Box, öffnen den Raum der Magie und ziehen so eine weitere Trennlinie zwischen der echten Welt“ und dem Kosmos der Performance. Die Holzfigur, der Unstern (ein altes Wort für das Unglück) verkörpert den Gegenspieler. Das Brett muss von den beiden Performer*innen im Knien geschultert werden, zwingt also beide vorsichtig miteinander zu kooperieren. Ist der Aufbau vollzogen, beginnen beide die Kirschen zu essen und deren Kerne abwechselnd in das Glas in der Mitte zu spucken. Einen Kern erfolgreich in das Glas gespuckt zu haben, wird vom Spiel als Erfolg und gutes Omen gewertet. Sind alle Kerne gespuckt, werden die Kostüme abgelegt und das Spielfeld verräumt. Beide lösen sich so aus der Sphäre des Spiels.
Die handgefertigten Gegenstände transportieren auch eine Idee von Nachhaltigkeit. Alle Materialien sind wiederverwendbar (bis auf die Kirschen versteht sich). Durch die rituelle Verwendung werden sie zwar benutzt, trotzdem heben sie sich von Gebrauchsgegenständen ab. In einem Ritual der Liebe werden sie zum verlängerten Arm der Zärtlichkeit und fördern den „schönen Umgang“ miteinander.
Die ausgespuckten Kirschkerne, die sich im Glas sammeln, werden zum geteilten Kuss über das trennende Element des Holzbrettes hinweg. Der strenge Look der uniformierten Knienden wird durch das Element des Spuckens gebrochen, das ein Hervorstoßen des Allerinnersten, Verdauten darstellt.
Insgesamt wurde die Performance von 8 Paaren aufgeführt. Obwohl alle mit den gleichen Instruktionen starteten, eigneten sich alle das Spiel auf unterschiedliche Art an. So zog zum Beispiel ein Performer seinen Umhang falsch herum an, damit eine andere Seite des aufgedruckten Bildes zu sehen sei. Der nächste Performer tat es ihm gleich. Ein anderes Pärchen manipulierte das Spiel, indem sie zwischen Knien und Stehen wechselten und so das Brett in eine Schieflage brachten, was es ermöglichte, das Glas leichter zu treffen. Auch erlaubten sich die Pärchen unterschiedlich viel Spaß zu haben. Während die ersten zwei Paare das alles recht ernst und feierlich mitmachten (wie ich es mir auch vorgestellt hatte), mussten die darauffolgenden viel mehr lachen, was auch die Stimmung der Zuschauer*innen beeinflusste. Auch die Location hatte Einfluss auf die Atmosphäre, die in der White- Cube Umgebung der Hochschule ziemlich nüchtern war. Als „Unstern 111“ im Spätsommer unter den Beuys Eichen des Museums in Goslar aufgeführt wurde, war die Aufführung entschieden gelöster (Abb. 3/4).
Abb. 3 Jakob Klukas, 2024
Das Projekt half mir ein Stück weit mehr zu verstehen, wie Spiele aussehen könnten, die ein Miteinander fördern, auf ästhetischer, praktischer und metaphysischer Ebene. Es ist entscheidend, welchen Spielregeln wir im Umgang mit anderen folgen und wie wir sie verändern, wenn wir die Gelegenheit dazu bekommen.
Huizinga, Johan (1938/2009): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 21. Auflage. Hamburg: Rowohlt.