Edition #2

ZUSAMMENLEBEN unterschiedlicher Lebensformen im Kontext Schule

Die Überlegungen zur Edition #2 Zusammenleben unterschiedlicher Lebensformen im Kontext Schule sind aus einer langjährigen Zusammenarbeit im Programm Kulturagenten für kreative Schulen hervorgegangen. Ausgehend von dieser Praxis in Berliner Schulen beschäftigte uns – Silke Ballath und Annika Niemann: Wie kann eine kollektive Praxis im Kontext Schule aussehen? Welche Möglichkeiten ergeben sich aus den Verbindungen unterschiedlicher Perspektiven und Lebensformen in diesem gesellschaftlichen Raum? Wie können unsere Beziehungsweisen (Adamczak 2017/2019, Ballath/Niemann 2025) zu anderen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen (Haraway 1995, 2018) zu einer Folie für die künstlerisch-edukative Praxis in Schule werden? Wie sieht eine Übersetzung in Schulpraxen aus und welche Bedingungen müssen dafür beachtet werden? An diese Fragen schloss eine Seminarreihe an, die wir gemeinsam an der HBK Braunschweig initiiert haben: Das Seminar Zusammenleben unterschiedlicher Lebensformen im Kontext Schule (2023 bis 2025).

Wie kann eine kollektive Praxis im Kontext Schule aussehen? Unser Anliegen war damals, Gegenseitigkeit im Sinne von Reziprozität oder Wechselseitigkeit mit den Studierenden des Instituts Performative Praxis, Kunst und Bildung künstlerisch zu erforschen. Beide Begriffe, Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit, beziehen sich auf die Eigenschaften von Handlungen, Beziehungen oder Austausch, bei denen verschiedene Seiten oder Akteur*innen gleichermaßen beteiligt sind und sich gegenseitig beeinflussen oder aufeinander reagieren (Federici 2020a, 2020b; hooks 1994, 2003, 2002/2022). Im Kontext künstlerisch-edukativer Praxis beziehen wir Reziprozität vorrangig auf soziale Interaktionen und zwischenmenschliche Beziehungen, die aus der Zusammenarbeit hervorgehen.

Im Wintersemester 2023/24 wurden diese Themen, Fragestellungen und Ideen im Kontext eines weiteren Seminars in künstlerisch-edukative Formate übersetzt. Verortungen und Voraussetzungen kollektiver Praxen standen ebenso im Fokus der Forschungsvorhaben, wie die Frage nach Reziprozität in Bildungsprozessen. Wie sehen die spezifischen Rahmenbedingungen kollektiver künstlerischer und konvivialer Aushandlungsräume aus? Welche Wissensformen und Körper bilden sich in den Räumen ab? Wie werden sie verhandelbar? Und wer wird darin sichtbar? Abgeschlossen haben wir die Forschung mit einem Labortag im Februar 2024 in den Räumen der Spore Initiative e.V. in Berlin Neukölln. Gemeinsam mit den beteiligten Studierenden luden wir zu diesem Tag Lehrpersonen, Künstler*innen, Kunstvermittler*innen und Wissenschaftler*innen ein. 

Bis Juli 2025 haben wir gemeinsam mit den Studierenden und eingeladenen Gäst*innen diese Erfahrung einem Re-reading (Rich 1972) unterzogen. Entstanden sind Text-, Bild-, und Gesprächsformate: Elsa Feulner und Hannah Neuhaus erforschen eine Form des produktlosen Strickens und Häkelns als Praxis der Selbstfürsorge. Le Thuc Mai Anh geht entlang einer Höraufgabe und dokumentierter Beobachtung der Frage nach, wie sich Unruhe sichtbar machen lässt. Luisa Ungar Ronderos, Annika Niemann und Silke Ballath beschäftigen sich in einer Video-Soundcollage inhaltlich und formal mit Unruhe, um Aufmerksamkeiten auf Fragen, Erinnerungen, Erfahrungen und Diskurse zu setzen, die Gegenseitigkeit und Konvivialität im Kontext Schule bedingen und ermöglichen. Jakob Klukas bringt seine künstlerische Praxis in Resonanz mit spieltheoretischen Überlegungen. Mit dem künstlerisch-forschenden Format listen_walk_translate untersucht Philipp Kapitza die Sensibilisierung der Wahrnehmung durch eine schweigende Raumaneignung. Karen Michelsen Castañón spürt dem aus dieser Auseinandersetzung entstandenen Format Silent Walk im Rahmen des Labortags in der Spore Initiative e.V. mit einer Videoarbeit nach. Im Gespräch mit Silke Ballath und Annika Niemann reflektiert Wiebke Janzen die gemeinsame Erfahrung während des Labortags aus ihrer Perspektive als Lehrperson. Josephine Roth beschreibt aus der Perspektive als Dozentin Szenen eines Seminars an der Universität zu Köln, das in eine gemeinschaftliche Rauminszenierung auf dem Neue Wellen Festival in Köln mündete. Santi Grunewald gibt Einblick in eine Lecture Performance, in der sie sich mit dem hierarchischen Verhältnis von dominantem und marginalisiertem Wissen beschäftigt, das auch außerhalb von universitären Gebäuden in verkörperten Subjekten erscheint. In einer Text-Bild-Collage untersuchen Mariano Gaich, Bettina Eberhard, Annika Niemann und Silke Ballath Beziehungsweisen in ihrer Praxis als aktive und ehemalige Kulturagent*innen für kreative Schulen zwischen Zürich und Berlin. Am Beispiel kleiner Momentaufnahmen blicken Silke Ballath und Annika Niemann zurück auf ihr gemeinsames Seminar zum Zusammenleben unterschiedlicher Lebensformen im Kontext Schule und den mit Studierenden entwickelten, kollektiven Forschungsprozess. 

Zwischen April 2024 und Juli 2025 wurde das Thema des Zusammenlebens an der TU Dresden und an der Kunstakademie Münster im Rahmen unterschiedlicher Seminare von Silke Ballath weitergeführt. Daraus hervorgegangen sind weitere künstlerisch-edukative Forschungen: Mit dem Schimmelmanifest haben Anika Dorn und Janne Wilhelms gemeinsam mit weiteren Kommiliton*innen die Frage untersucht, wie die Schule der Zukunft aussehen könnte. Tabea Becher und Rike Koal stellen in einem Rückblick ein künstlerisch-edukatives Format vor, mit dem eine kollektive Vision entstehen kann. Das Experiment Alltagsungehorsam wurde von Silke Ballath, Tabea Becher und Rike Koal in ihrem gemeinsamen Seminar Manifest eingeführt und gemeinsam mit Anika Dorn, Hannah Sue Kleindienst, Kimi Krauspe, Benjamin Michael Lehmann und Sophie Scharonin reflektiert. Jenny Morales Ahmady stellt ein Spiel vor, das den Umgang mit (Alltags-)Einschränkungen kritisch befragt. Mit LIEBEN (ver)lernen (ver)lieben stellen Hannah Sue Kleindienst und Kimi Krauspe ein Kartenset vor, mit dem Liebe performativ im schulischen Kontext erforscht werden kann. Anika Dorn erforscht Textur als ein Gewebe mit Zwischenräumen, Faltungen und Überlagerungen und fragt, was zwischen den Fäden und Zeilen liegt. Maxi Linke fragt danach, welche Art von Assoziationsraum der Begriff des Fadenspiels eröffnet. Die künstlerisch-performative Forschung von Lisa-Marie Rudolph und Jaquline Buchal setzt sich mit der Verschränkung von Sprache, Macht und ihrer Dekonstruktion auseinander. Und ausgehend von einem Gespräch mit der Künstlerin Havîn Al-Sindy stellt Silke Ballath die Installation Resonanz. Im Nachklang (2024) vor.

Die Beiträge verbindet die Frage nach dem Zusammenleben im Kontext Schule. Welche (Ausdrucks-)Sprachen können dazu beitragen, eine Vielperspektivität in der Schule zu entwickeln und dafür zu sensibilisieren? Inwieweit birgt eine Übersetzung Gefahr, dass diese vielfältigen Praxen einer hegemonialen Aneignung unterzogen werden (Spivak 1990, 2008; Sternfeld 2019)? Welche Möglichkeiten eröffnet das für den formalen Bildungskontext einer Schule, im Zuge aktueller gesellschaftlicher Krisen wie etwa Klimawandel, Krieg, Armut und Ungleichheitsverhältnissen (Spivak 2017; Sternfeld 2009, 2014; Sanyal 2022)? Und ist es möglich, sich gemeinsam Zukünfte einer möglichen Schule vorzustellen, ohne die Zukunft bereits zu kennen (Garcés 2022)?

Allen Beträgen gemein ist das Verbinden, Erproben und Erforschen unterschiedlicher Wissensformen und ihre Übersetzung in eine künstlerisch-edukative Praxis.

Herausgegeben von Silke Ballath und Annika Niemann im September 2025

Gestaltung: Jakob Klukas

 

BEITRÄGE

Elsa Feulner, Hannah Neuhaus
Unruhe verstricken – Über Räume in denen „Sorge“ und „Unruhig-werden“ als gemeinschaftliche Selbstfürsorge agiert

Le Thuc Anh Mai
Künstlerisch-gestalterische Prozesse zum Aufzeigen von (Un-)Sichtbarkeiten von Unruhe

Jakob Klukas
Unstern 111

Philipp Kapitza
Beziehungsweisen (ver)antworten: listen_walk_translate

Wiebke Janzen
Den Hammer einfach Hammer sein lassen? Ein Gespräch zwischen Wiebke Janzen, Annika Niemann und Silke Ballath

Karen Michelsen Castañón
Silent Walk

Silke Ballath, Annika Niemann
Den Rhythmus unterbrechen: Überlegungen zu kollektiven Forschungsprozessen im Seminarkontext

Anika Dorn, Janne Wilhelms
Schmutz und Schimmel sollen leben! Ein Manifest für die Schule der Zukunft

Silke Ballath, Annika Niemann, Luisa Ungar Ronderos
Bouncing and balancing the in-between

Tabea Becher, Friderike Koal
Sich gemeinsam die Zukunft vorstellen – Rückblick: Entwicklung eines Workshopformats

Silke Ballath, Tabea Becher, Anika Dorn, Hannah Sue Kleindienst, Friderike Koal, Kimarie Krauspe, Benjamin Lehmann, Sophie Scharonin
Miauend im Archiv. Das Experiment Alltagsungehorsam

Jenny Morales Ahmady
(K)ein Tabu. Ein Spiel über (Alltags-) Einschränkungen

Hannah Sue Kleindienst, Kimarie Krauspe
LIEBEN (ver)lernen (ver)lieben

Josephine Roth
Stimmgeräte

Anika Dorn
TEXTUREN. Von vermissten Fäden, verwobenen Fragmenten und veränderten Falten

Maxi Linke
Das Fadenspiel als Assoziationsraum

Jaqueline Buchal, Lisa-Marie Rudolph
Bedeutungsgewebe experimentieren: Wie das Lachen beginnt…

Santi Grunewald
Ein künstlerisches Erproben heterogenen Wissens im homogenisierten Feld der Hochschule – Fragmente einer Lecture Performance

Havîn Al-Sîndy, Silke Ballath
Der Nachklang des Pfeifens: (un-)sichtbaren Geschichten zuhören

Silke Ballath, Bettina Eberhardt, Mariano Gaich, Annika Niemann
Beziehungsweisen: um mögliche Zukünfte kämpfen

Silke Ballath, Maja Froschauer, Maxi Linke, Le Thuc Anh Mai, Jenny Morales Ahmady, Annika Niemann
Purzelbäume schlagen: Beziehungsweisen im schulischen Kontext aushandeln

 

Edition #2 mit einer Auflage von 50 Stk, erschienen, 09/2025
Gestaltung Edition #2: Jakob Klukas
Druck: www.we-make.it
Lektorat/Korrektorat: Silke Ballath und Annika Niemann

Vielen Dank für die Unterstützung an: Wiebke Janzen, João Albertini, Nürtingen-Grundschule Berlin Kreuzberg, Spore Initiative e.V., HBK Braunschweig

 

Literatur

Adamczak, Bini (2017/2019): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. 4. Auflage. Berlin: Suhrkamp.

Ballath, Silke/Niemann, Annika (2025): Etwas verschiebt sich… Beziehungsweisen zwischen Praxis und Theorie künstlerisch-edukativer Interventionen im Kontext Schule. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/etwas-verschiebt-sich-beziehungsweisen-zwischen-praxis-theorie-kuenstlerisch-edukativer (letzter Zugriff am 05.07.2025).

Federici, Silvia (2020a): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, hg. von Martin Birkner, übersetzt von Max Henninger, 8. Auflage, Wien/Berlin: Mandelbaum Kritik & Utopie.

Federici, Silvia (2020b): Die Welt wieder verzaubern. Feminismus, Marxismus & Commons, übersetzt von Leo Kühberger, Wien/Berlin: mandelbaum kritik & utopie.

Garcés, Marina (2022): Mit den Augen der Lernenden. Übersetzt von Richard Steurer-Boulard. Wien: Turia + Kant.

Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, übersetzt von Dagmar Fink, Carmen Hammer, Helga Kelle, Anne Scheidhauer, Immanuel Stieß und Fred Wolf, Frankfurt am Main: Campus.

Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, übersetzt von Karin Harrasser, Frankfurt/New York: Campus.

hooks, bell (1994): Teaching to Transgress. Education as the Practice of Freedom, New York/London: Routledge.

hooks, bell (2003): Teaching Community. A Pedagogy of Hope, New York/London: Routledge.

hooks, bell (2002/2022): lieben lernen. Alles über Verbundenheit, übersetzt von Elisabeth Schmalen, Hamburg: HarperCollins.

Rich, Adrienne (1972): When We Dead Awaken: Writing as Re-Vision, in: College English, 34/1: Women, Writing and Teaching, S. 18–30 [DOI] https://doi.org/10.2307/375215. 

Sanyal, Mithu (2022): Epilog. WTF are Commons? in: brown, harriet c. (Hg.), Lumbung erzählen, Berlin: Hatje Cantz, S. 175–183.

Spivak, Gayatri Chakravorty (1990): Criticism, Feminism, and The Institution, in: The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, hg. von Sarah Harasym, New York: Routledges, S. 1–16 [DOI] https://doi.org/10.4324/9780203760048

Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Ein Gespräch über Subalternität, in: Spivak, Gayatri Chakravorti (Hg.), Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant, S. 119–148.

Sternfeld, Nora (2009): Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault, Wien: Turia + Kant.

Sternfeld, Nora (2014): Verlernen Vermitteln, Kunstpädagogische Positionen 30, Hamburg: REPRO LÜDKE Kopie + Druck [online] http://kunst.uni-koeln.de/_kpp_daten/pdf/KPP30_Sternfeld.pdf [abgerufen am 19.05.2022].

Sternfeld, Nora (2019): Wessen Kultur und wessen Bildung? in: ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 13/2: Kultur und Bildung – kulturelle Bildung?, hg. von Birgit Althans und Kathrin Audehm, S. 21–25.