Der Text beschreibt Szenen eines Seminar und Momente der Reflexion darüber aus der Sicht der Dozentin. Das Seminar hat im Sommersemester 2024 am Institut Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln stattgefunden. Die Studierenden haben innerhalb des Seminars ein gemeinschaftliches Projekt entwickelt, das in eine Rauminszenierung auf dem Neue Wellen Festival in Köln mündete.
Lesen
Es sind Semesterferien vor dem Sommersemester 2024. Ich bin auf Fuerteventura. Es sind 26 Grad und es ist Ende Februar. Ich liege im Sand und lese das Buch Feltness. Es stellt verschiedene Projekte vor, die von Kunstpädagog*innen und Künstler*innen in Schulkontexten durchgeführt wurden. Unter dem Stichwort Research Creation werden die Projekte als offen und kollaborativ beschrieben, was in diesen Fällen bedeutete, dass die Schüler*innen die Prozesse mitgestalten durften und gemeinsam an einem Projekt arbeiteten. Ich unterstreiche mit einem lila Textmarker: How do you make a class operate like a work of art? Ich finde, der Satz hört sich brutal an. Zwei Seiten später lese ich „education-as-art“, das gefällt mir besser. Die Autorin schreibt, dass alle Projekte sich zu queer-feministischen, antirassistischen und antikolonialen Praktiken verpflichtet fühlen. Ich markiere den Absatz und schreibe daneben „ambitious?!?!“.
Mehrere Doppelseiten sind mit Fotos gefüllt, die zeigen, wie die Jugendlichen gemeinsam über Wochen ein riesiges Seil knüpften und häkelten, das in einem Abschlussevent durch die gesamte Turnhalle gespannt wurde und gleichzeitig Basketballkorb, Hüpfseil und Schleudermaschine war. Die Autorin schreibt, dass die Schüler*innen der gesamten Stufe gemeinsam Spiele mit und für dieses Seil erfanden und sie ausprobierten. Etwas daran berührt mich. Ich lege das Buch zur Seite, strecke mein Gesicht in die Sonne und versuche mir vorzustellen, wie sich diese Kinder in der Halle gefühlt haben müssen, ob sie Spaß hatten. – Oder sind die Bilder nur gut getroffen und stützen die Erzählung?
Einstimmen
Ich gehe in den Seminarraum, in dem in diesem Semester mein Seminar stattfinden wird. Ich schiebe ein paar Tische an die Seite, sodass ich eine große Fläche des grauen Linoleumbodens sehen kann.
Dort setze ich mich mit meiner dunklen Hose auf eine – augenscheinlich – saubere Stelle und male mir aus, wie die Studierenden den Raum in der ersten Sitzung betreten werden. Die meisten werde ich nicht kennen, vielleicht kennen sich einige untereinander. Mein Blick wandert an das eine Ende des Raums. Hinter einem Vorhang, der einen kleinen Teil vom Rest des Raumes abtrennt, sehe ich verschiedene Materialien und Möbel. Ich scanne den Wust an Dingen, die ohne nachvollziehbare Sortierung herumliegen, und fokussiere Sitzsäcke, Kissen und Stoff. In meiner Vorstellung schiebe ich die Kissen in einen Kreis. Mein Mund öffnet sich und ich murmle halblaut „gemütlich“. Ich wundere mich über das ausgesprochene Wort und vor meinem inneren Auge erscheinen in fetten Großbuchstaben die Begriffe: Einladen, Zusammensein, Ziel, Beitragen. Während ich versuche, die Begriffe, die vor mir schweben, mit Inhalt zu füllen und in eine Ordnung zu bringen, lösen sich diese in ein Szenario auf.
In einem überfüllten Raum sind Studierende in einem aufgeregten Tun miteinander, das für mich nicht erkennbar ist. Die Stimmung scheint ausgelassen und durch die Geräuschkulisse von mehreren parallel stattfindenden Gesprächen lebendig. Obwohl ich niemanden rauchen sehen kann, ist der Raum vernebelt. Verwundert darüber, warum ich den Rauch nicht rieche, erinnere ich mich an meine Raucher-Zeiten und das damit verbundene gesellige Gefühl in einem kalten WG-Zimmer, in dem wir zusammensaßen und rauchten.
Mit einem leichten Kopfschütteln hole ich mich in den Raum zurück und schiebe die verrückten Tische an ihre vorherigen Plätze und gehe in mein Büro.
Der Dokumentenordner „RC“ auf meinem Laptop ist mit mindestens einem Dutzend Texte über künstlerische Gemeinschaftsprojekte in Bildungskontexten gefüllt. Unter den Stichpunkten Research-Creation, künstlerisch-edukative Praxis, Ästhetische Forschung, Socially Engaged Art könnte ich ein sinnvolles Lektüreseminar anbieten. Diese Erkenntnis macht mich ruhig und ich bin froh, dass ich schon weiß, was ich im kommenden Semester machen werde. Ich lege meinen Kopf auf die Tischplatte und erinnere mich mit zusammengekniffenen Augen an die ersten Momente meiner vergangenen Seminare. Die Blicke der Studierenden fixierten mich und warteten darauf, dass ich etwas von mir gebe. Bewegungslos wünschte ich mir, es gäbe etwas, das die Situation auflöst. Ein Hundewelpe, den ich auf die Studierenden loslassen könnte. Mit sofortiger Wirkung gäbe es einen anderen Grund für unser Zusammensein als die Tatsache, dass die Studierenden studierten und ich meinen Job machte. Sehr unrealistisch, denke ich. Meine Gedanken wandern von unangenehmen Warm-up-Spielen über Rauchen in Gruppen zu Anstoßen mit bauchigen Weingläsern. Mir fällt ein, wie ich im letzten Semester an einem besonders kalten Wintertag für ein Seminar Tee kochte. Die Erinnerung nimmt mich einige Minuten ein und ich frage mich, wie es den Studierenden aus diesem Seminar wohl geht? Ob sie noch studieren? Vielleicht arbeiten manche schon in Schulen? Oder woanders? Werden wir uns jemals wiedersehen? Maximal zufällig und nicht in derselben Runde, das steht fest.
Raum stimmen
Ich habe eine halbe Stunde Zeit, den Seminarraum vorzubereiten. Ich gehe in die Küche und beginne Tee zu kochen. 12 Studierende stehen auf der Teilnehmendenliste. Während der Tee zieht, gehe ich in den Seminarraum und schiebe Tische und Stühle zur Seite. Ich sammle alle Sitzkissen zusammen, die ich in einem Kreis an einem Ende des Raumes positioniere. Vor jeden Sitzplatz lege ich eine Serviette mit einem veganen Schokokeks darauf. Auf der Suche nach einem kleinen Tisch, entdecke ich einen Sockel, der herumsteht, lege ihn um und bedecke ihn mit einem Stoffrest, den ich heute morgen in Eile aus meiner Stoffrestesammlung gezogen habe. Dann schiebe ich den Sockel in die Mitte des Kreises. Die kleinen 50er-Jahre Tassen, die ich im großen Schrank der Institutsküche gefunden habe, stelle ich zusammen mit einer passenden weißen Porzellan-Teekanne auf den Sockel. Nervös zupfe ich an dem Stoff, mit dem der Sockel bedeckt ist, und wünsche mir Tische, Stühle und Texte zurück. Ich schaue auf die leeren Sitzsäcke und stelle mir leere Augen vor, die mich von dort anschauen. Die Studierenden betreten nach und nach den Raum. Die erste Person schaut irritiert die weggerückten Tische und Stühle an und wandert mit ihrem Blick langsam zum Kissenkreis, bis dieser schließlich meine Augen fixiert und ein zögerliches: „Hallo, soll ich mich hinsetzen?“ meine Ohren erreicht. Ich nicke und lächle. Die nächsten Studierenden schauen zwar noch etwas fragend, setzen sich aber ohne zu zögern in den Kreis. Zwei Studierende erkenne ich wieder aus einem Seminar, das schon einige Semester zurückliegt.
Während die Studierenden sich von dicken Jacken und Umhängetaschen befreien, warte ich geduldig und versuche niemanden zu lange zu beobachten. Als sie dabei sind, ihre Kissen in zum Sitzen angenehme Formen zu drücken, gehe ich zum Teetisch in der Mitte des Kreises und befülle die Tassen mit Tee. Niemand spricht und ich bin froh, dass ich etwas zu tun habe. Als ich mir schließlich auch einen Platz im Kreis gesucht habe, begrüße ich die Studierenden und fordere sie auf, sich einen Kräutertee zu nehmen. Alle Studierenden nehmen sich eine Tasse. Einige legen ihre Hände um die Tasse, so als wollten sie mit dem warmen Tee ihre Hände wärmen. Immer noch spricht niemand. Man hört Schluckgeräusche, das Reiben verschiedener Textilien aneinander und die Bewegung der Styroporkügelchen aus den Sitzsäcken. Ich nehme auch einen Schluck Tee und beginne zu sprechen. Ich stelle mich vor und erzähle etwas über das Buch, das ich auf Fuerteventura gelesen habe, über Research Creation, gemeinschaftliche Projekte im Kunstunterricht und warum ich glaube, dass es von Bedeutung ist, sich als angehende Lehrkraft auch damit zu beschäftigen. Dann frage ich in die Runde, ob sie Lust auf ein Seminar hätten, dass etwas offener gestaltet sei und sich nicht nur theoretisch mit den Konzepten auseinandersetze. „Ein bisschen experimenteller. Wir könnten die Konzepte selbst ausprobieren und uns neue ausdenken. Vielleicht können wir daraus etwas lernen, das für Schule relevant ist.“
Die erste Studentin hebt den Arm und lächelt wohlwollend. „Sprecht gerne einfach, ohne euch zu melden“, sage ich und schaue in die Runde. Sie erklärt zögernd, dass sie nicht sicher sei, ob sie alles richtig verstanden hätte, aber dass sie Lust darauf hätte und es sehr schön fände, wenn wir in jeder Sitzung mit dem gemeinsamen Teetrinken starten könnten. Die folgenden Studierenden bekräftigen die Idee und jemand schlägt vor, dass alle mal eine Kleinigkeit zu Essen mitbringen könnten. Jemand anderes betont, wie wichtig es ihm wäre, dass wir uns Zeit nehmen, uns kennenzulernen. Er glaube, dass solche gemeinschaftlichen Prozesse besser funktionieren, wenn man sich etwas kennt.
Nachdem die erste Tasse getrunken ist, schlage ich vor, einen kleinen Spaziergang um den Kanal zu machen, der direkt an unserem Unigelände liegt. Wir gehen hinaus und beantworten in wechselnden Kleingruppen folgende Fragen: Was ist etwas, das du liebst? Was ist etwas, das du mal geliebt hast und nicht mehr liebst? Was ist etwas, das du gerne mehr lieben würdest?
Zum Abschluss der Sitzung kommen wir noch einmal in den Sitzkreis im Seminarraum zusammen. Die Studierenden beginnen ohne Aufforderung die Methode zu reflektieren. Eine Studentin sagt: „Ich mag, dass die Fragen so etwas Poetisches haben, das erzeugt gleich so eine Intimität.“ Eine andere Person erwidert: „Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen soll. Soll ich jetzt hier über meinen Ex-Freund sprechen oder so… Also erst kamen mir nur so konkrete Sachen in den Kopf, aber dann haben wir in der Gruppe auch angefangen über Sachen zu reden, die wir lieben oder nicht lieben, die mit Uni und Schule zu tun haben.“ Ich höre den Studierenden zu. Einige Studierende helfen mir, die Sitzsäcke wieder in den abgetrennten Bereich des Raumes zu bringen und die Tassen in die Spülmaschine in der Küche zu räumen. Sie verabschieden sich und bedanken sich für den Tee.
Bestimmen
Ab jetzt bereiten die Studierenden und ich den Tee gemeinsam vor. Ab und zu bringt jemand etwas zu Essen mit: Trauben, Kekse, Chips. Wir verbringen unsere Sitzungen mit Reden, Spazieren, Lesen und dem gegenseitigen Vorstellen von künstlerischen Arbeiten, die uns interessieren. Die Studierenden erzählen immer wieder von ihrem Kunstunterricht, was sie daran mochten und was nicht. Nach drei Sitzungen fragen mich meine Freunde, die das neue Wellen Festival organisieren, ob ich einen künstlerischen Input mit einem meiner Seminare auf dem Festival organisieren möchte. In der vierten Sitzung frage ich das Seminar. Wir stimmen ab und alle sind dafür. Es wird gebrainstormt. Unrealistische Ideen werden ausformuliert und verworfen. In einer Sitzung besichtigen wir das Festivalgelände und den Ausstellungsraum. Wir sammeln viele Ideen, besprechen sie, bis sie niemand mehr gut findet. Wir finden keinen roten Faden, während wir immer wieder über Momente des Zusammenseins sprechen. In der siebten Sitzung sagt jemand: „Wir können doch auch versuchen, so eine Tee-Trinken-Atmosphäre auf dem Festival herzustellen.” Niemand ist dagegen.
Video Cyanotypie, 2024
Erzählen
In der vergangenen Sitzung habe ich uns die Aufgabe gegeben, bis heute Geschichten, Mythen und Erzählungen zum Thema Tee mitzubringen, eine persönliche und eine, die nichts mit einem selbst zu tun hat. Wir saßen also wieder im gewohnten Kreis mit einer kleinen Tasse Tee vor uns. Das Teetrinken war zu einem Ritual geworden. Ich weiß nicht, ab wann eine wiederholt durchgeführte Handlung zum Ritual wird, aber ich denke, jetzt könnten wir es so nennen. Einige Studierende haben einen Gegenstand dabei, der vor ihren Füßen auf dem Boden liegt. Eine Studentin meldete sich. Ich schaue sie mit leicht hochgezogenen Mundwinkeln an. Sie nimmt die Hand herunter und sagt: „Oh stimmt, wir sollen uns ja nicht melden.” Ein Lachen geht durch den Raum. In ihrer Hand hält sie ein Foto, das sie etwas vor sich auf den Boden platziert. Auf dem Foto ist ein kleines Kind mit glänzend schwarzen Korkenzieherlocken zu sehen, das mit kurzer Hose und einem weißen T-Shirt auf einer sonnenbestrahlten Wiese hockt und aus einem kleinen Glas eine walnussbraune Flüssigkeit trinkt. Das Glas hat in der Mitte eine nach innen gehende Wölbung. Es erinnert mich an den türkischen Tee, den ich beim Dönerladen um die Ecke während der Wartezeit gratis serviert bekomme. Neben dem Kind ist der Ausschnitt eines erwachsenen Körpers zu erkennen. Man sieht zwei Hände, die das gleiche Glas wie das Kind in der Hand halten und mit einem kleinen silbernen Löffel darin rühren. Die Studentin schaut auf das Foto und sagt: „Ich habe immer mit meinem Vater Tee getrunken. Manchmal hatte ich ihn auch in meiner Babyflasche.” Sie lacht und sagt: „Guckt mal, was für Locken ich früher hatte.“ Unweigerlich schaue ich auf ihren Kopf. Ihre Haare sind von einem Hijab bedeckt. Eine andere Studentin steigt ein und sagt: „Ich habe auch ein Foto mitgebracht.“ Sie zeigt auf das Bild, das sie vor ihr Gesicht in den Kreis hält. Das Foto ist fast ganz von einem silberfarbenen Behältnis bedeckt, das auf einem kleinen Tisch steht. „Das ist so ein Behälter, um Tee zu machen. Das stand bei uns im Wohnzimmer. Meine Eltern haben immer Tee getrunken, aber diesen Behälter haben sie nie benutzt, der stand immer nur rum und ich weiß bis heute nicht wieso.”
Mitschreiben
Nach der ersten Sitzung habe ich mir ein A5-Heft gekauft, blanko mit gelbem Einband. Ich hatte das Heft immer dabei und schrieb alle Ideen, die sich während der Sitzung auftaten, hinein. Zuerst versuchten wir, in jeder Sitzung eine Person auszuwählen, die Protokoll führt, damit keine Dinge verloren gingen. Schnell bemerkten wir jedoch, dass es für die Studierenden schwierig war, sich am Seminargeschehen zu beteiligen und gleichzeitig mitzuschreiben. Da ich mich in den Gesprächen weitestgehend zurückhielt, schlug ich vor, die Aufgabe zu übernehmen.
Seitdem nehme ich mir nach jeder Sitzung Zeit, um die mitgeschriebenen Inhalte zu ordnen. Auf eine neue Seite schreibe ich, woran wir in der kommenden Sitzung denken und was wir wieder aufnehmen müssen.
Während ich das Wort Gesprächsanlässe unterstreiche, erscheint meine Mentorin aus dem Praxissemester in meinen Gedanken. Frau Riet war eine mittelgroße Frau in ihren Fünfzigern mit einem kurzen Bob. Nach jeder Stunde notierte sie fein säuberlich in ihr schwarzes Büchlein, was in der Stunde erarbeitet wurde. Sie hatte eine so ordentliche Schrift, dass sie ohne Linien in einer perfekten Geraden schreiben konnte. Wenn sie eine Seite umblätterte, tat sie das mit so einer ruhigen Genauigkeit, dass in mir das Bedürfnis aufstieg, sie mit einem lauten Schrei zu unterbrechen.
Das Reformulieren der unstrukturierten Punkte des Protokolls zwingt mich dazu, die Dinge klein und konkret werden zu lassen. Einige der Ideen, die mir in den Gesprächen während der Sitzung interessant vorkamen, wirken nun trivial und langweilig. Während ich Buchstaben auf das Papier setze, ertappe ich mich dabei, wie ich meine eigenen Überlegungen in die Notizen einfließen lasse. Ich lege meinen Kopf mit zugekniffenen Augen einige Sekunden in den Nacken. Erneut gehe ich das bereits Aufgeschriebene durch und streiche alles von mir Hinzugefügte durch. Eine Frage, die ich am Ende eines Punktes ausformuliert habe, lasse ich stehen, umkreise sie und schreibe daneben: in der nächsten Sitzung nachfragen.
Nicht schlafen
Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Meine Gedanken rotieren um das bevorstehende Festival. Ich wälze mich nach rechts und links. Meine Beine beginnen von innen zu jucken. Ich hasse dieses Gefühl. Restless legs heißt das, erzählte mir kürzlich eine Freundin. Ich will nicht, dass es kitschig wird. Ich stelle mir den Ausstellungsraum vor, die roten Wände vollgeklebt mit handbeschrifteten DIN-A4-Blättern. Vor meinen Lidern bewegen sich die Wände des Raumes zwischen Ausdehnung und Kompression. Ich versuche mir einzureden, dass es nicht um mich geht. Vielleicht hätte ich mehr lenken müssen. Ob die Studierenden überhaupt irgendetwas aus dem Seminar ziehen. Verstehen sie eigentlich, was das mit Kunstunterricht zu tun hat? Hat das etwas mit Kunstunterricht zu tun? Die roten Wände sind plötzlich voller Flecken und Löcher. Wir hatten uns den Raum doch angeschaut, die Wände sahen gut aus. Mit jedem Hinschauen werden die Löcher etwas größer. Ich begreife, dass schon einige Menschen auf dem Festivalgelände sind. Es rauscht. Ich bin allein. Ich bekomme eine Nachricht auf mein Handy. Ich kann sie nicht lesen und das Handy verschwindet. Ich werde hektisch, lege irgendwelche Objekte hin und her. Die Geräusche des Festivals sind so laut, dass ich nicht denken kann. Wo sind die denn? Mein Körper und jede Bewegung wird schwerer. Wie aus dem Nichts erscheint leicht transparent der Körper einer ehemaligen Dozentin aus der Uni vor mir. Ich hatte mehrere Projektkurse bei ihr belegt. Sie war eine der jüngeren Lehrenden, vielleicht Mitte dreißig. Für eine Frau war sie sehr distanziert und kühl. Warum ist sie nicht etwas herzlicher? hatte ich mich in der Uni öfter gefragt. Ich schaue sie ungläubig an. Sie trägt die schwarzen Blundstone Schuhe, die ich ihr damals nachgekauft habe, nachdem ich sie gefragt hatte, von welcher Marke ihre Schuhe seien. Einmal sagte sie zu einer Arbeit von mir, sie sei so schön, dass sie fast weinen müsse. Sie schaut mich an, mich durchzieht ein Schauer, dann verschwindet sie wieder. Die Wände des Raumes werden dünner und ich kann durch sie hindurch Freunde von mir erkennen. Ich rufe ihre Namen. Ich höre meine Stimme, aber niemand reagiert. Ich will noch einmal rufen, aber die Wände haben sich bereits in rotes Licht aufgelöst. Ich schlafe ein.
Tee kochen
Heute sehen wir uns das letzte Mal vor dem Festival. In den letzten Sitzungen hatten wir organisiert, Aufgaben verteilt, Ideen ausprobiert, sie wieder verworfen und viele Entscheidungen getroffen. Wir sitzen in meinem Büro auf Stühlen, Hockern und dem grau melierten Teppichboden. Der Seminarraum ist wegen einer externen Veranstaltung kurzfristig belegt. Eine Studentin holt eine Tupperdose mit rosafarbenem Deckel aus ihrer blauen Freitag-Tasche heraus. Sie öffnet die Dose und sagt: „Ich bin mir nicht sicher, wie sie geworden sind, aber ich habe vegane Matcha-Kekse gebacken.” Die grünen Kekse sind mit kleinen rosa Glitzerstreuseln verziert. Die Kannen Tee, die zwei der Studierenden vor Beginn der Sitzung Minuten vorbereitet haben, gehen gleichzeitig mit der Keksdose herum. Während sich ungefähr 28 Hände zwischen Teekanne, Tassen, Keksen, Tisch und Mund bewegen, frage ich in die Runde: Was müssen wir heute noch machen? Ich nehme ein weißes Blatt und schreibe auf, was die Studierenden hineingeben: Teesirup kochen, Teebeutel annähen, Teeflaschen etikettieren, Ausstellungstexte layouten und drucken. Zwei Studentinnen schauen sich an und eine der beiden sagt: „Wir machen den Sirup“. Jemand anderes ruft hinein: „Ich würde gern die Flaschen etikettieren“. Der Student, der in der letzten Sitzung das Layout der Einladungskarten designt hatte, hat bereits sein Ipad aufgestellt und arbeitet an den Texten. Die restlichen Studierenden stehen auf und verteilen sich auf die Gruppen.
Als jede Gruppe einen Platz gefunden hat, laufe ich von Gruppe zu Gruppe. Die Studierenden sind in Gespräche über Studium, Schule, Herkunft, Aufwachsen und Taylor Swift vertieft, während sie nebenbei nähen, kochen, layouten und etikettieren. Drei Runden gehe ich, bevor ich ganz ruhig werde. Ich setze mich auf einen Stuhl zur Nähgruppe, nehme Nadel und Faden und beginne zuzuhören.
Ein paar der Studierenden werden beim Festival nicht dabei sein können, da der Termin in den Semesterferien liegt. Das wussten wir von Anfang an. Eine Studentin, die nicht dabei sein kann, kommt auf mich zu und breitet die Arme selbstbewusst aus. Sie bedankt sich für das besondere Seminar und umarmt mich. Etwas überfordert von diesem ungewöhnlichen Körperkontakt zwischen Dozentin und Studentin freue ich mich sehr über den aufrichtig wirkenden Dank. Es folgen noch ein paar mehr Umarmungen. Als alles aufgeräumt ist und die Studierenden gegangen sind, ist es ganz ruhig im Institut. Ich gehe in mein Büro, um meine Jacke zu holen und die Tür abzuschließen. Auf meinem Tisch liegt ein kleiner Zettel. Ich gehe näher und erkenne, dass es ein Etikett aus dem Etikettiergerät ist, auf dem I <3 Taylor Swift zu lesen ist.