Ausgehend von einem Gespräch hat Silke Ballath den Text zu der künstlerischen Arbeit Resonanz. Im Nachklang (2024), der Künstlerin Havîn Al-Sîndy verfasst. Die Installation besteht aus drei Elementen, die jeweils in Interaktion miteinander treten: eine Bodenzeichnung, vier sich im Raum bewegende KI-Skulpturen sowie eine Videoarbeit. Sie reagieren aufeinander und weben ein Netz pluraler Beziehungsweisen, dem sich die Betrachter*innen nicht entziehen können, wollen sie in Kontakt mit der Installation treten. Ausgangspunkt für die Installation ist eine Performance im Wald, die die Künstler*in mit Bochumer Schüler*innen entwickelt hat. Gemeinsam erforschen sie das Pfeifen und experimentieren entlang ihrer Performance das Zusammenleben unterschiedlicher Lebensformen.
Die Philosophin Marina Garcés beschreibt eine Begegnung als etwas, in das Vorannahmen und Erfahrungen, Geschichte(n) und Erinnerung(en) eingeschrieben sind. Ihr zufolge beginnt eine Begegnung „nie bei Null, denn es ist die Wirkung einer Begegnung. Begegnung heißt weder herzustellen noch zu planen. Es bedeutet, sich zu finden und davon ausgehend den Sinn einer Situation herauszuarbeiten: Woraus besteht sie, wie kommt man dorthin und wie wollen wir aus ihr herauskommen?“ (Garcés, 2022, 172). Die performative Installation Resonanz. Im Nachklang der Künstlerin Havîn Al-Sîndy eröffnet eine solche Begegnung. In dieser erschaffen menschliche und nicht-menschliche Körper gemeinsam die Bedeutung einer vielschichtigen Situation. Im folgenden Text wird dieser Aspekt der künstlerischen Arbeit fokussiert und ausgeführt.
Augenscheinlich besteht Resonanz. Im Nachklang aus drei Elementen: einer Bodenzeichnung, vier sich im Raum bewegende Skulpturen und einer Videoarbeit. Alle drei Elemente der Installation beziehen sich aufeinander, interagieren miteinander und weben kontinuierlich ein Netz pluraler Beziehungsweisen: Die Bodenzeichnung aus Grafit ist eine Zusammenstellung und Überlagerung einer Vielzahl mikroskopisch angefertigter Zeichnungen von den Auswüchsen und Vernetzungen eines Pilzes. Die Skulpturen sind bewegliche, pilzförmige KI-Roboter, deren flexibles Material auf eine Berührung reagiert und sich (ver-)formt, jedoch immer wieder seine Ursprungsform annimmt. Sie kommunizieren untereinander, treten zudem mit der Videoarbeit in Kontakt und entwickeln dabei ein eigenes Kommunikationssystem. Und die Videoarbeit schließlich zeigt, wie sich junge Menschen das Pfeifen in einem deutschen Wald beibringen. Dokumentiert wird darin die Performance Resonanz. (Die Performance) Im Nachklang, die Al-Sîndy gemeinsam mit Bochumer Schüler*innen entwickelt hat.
Spekulieren, verbinden, spinnen
Der Wald – als Austragungsort der Performance – eröffnet ein verzweigtes, wachsendes Geflecht sichtbarer und unsichtbarer Kommunikations- und Lebensformen zwischen den jungen Menschen, den Vögeln, den Bäumen, den Pilzen und den Pflanzen: Wer kommuniziert auf welche Weise? Wie wird eine Sprache aktiviert? Welche Kodierungen einer Sprache kenne ich, welche nicht? Worauf reagiere ich, worauf reagiert meine Umgebung? Und wie werde ich in ein Kommunikationssystem integriert?
Abb. 1 Im Nachklang Skulptur, Havîn Al-Sîndy 2024
Ausgehend von der Frage nach der Weitergabe und Kodierung von Wissen, haben Al-Sîndy und die Schüler*innen gemeinsam Erfahrungen und Erinnerungen zum Pfeifen gesammelt und sich zunächst gefragt, wann das Pfeifen gelernt wird. Wer lernt es von wem? Wie wird es eingesetzt? Worauf weist das Pfeifen hin? Gemeinsam erforschen sie das Pfeifen: Als Praxis des Widerstands und eigenständiges Kommunikationssystem, als Möglichkeit des In-Kontakt-Tretens und Sich-Begegnens. Zudem korrespondiert das Pfeifen mit dem mycelartigen Kommunikationssystem, das Pilze in der Symbiose mit dem Wurzelwerk eines Baumes aufbauen. Garcés beschreibt eine solche Situation als ein Bündnis von Fremden – um gemeinsam zu lernen (vgl. Garcés, 2022, 173). Sie formuliert: „Die Begegnung beginnt dann eine Begegnung zu sein, wenn aus der Erfahrung der Fremdheit eine Form der gegenseitigen Wertschätzung entsteht“ (ebd.: 174). Das Pfeifen in Al-Sîndys Performance eröffnet diese Art der Begegnung unter Fremden, um gemeinsam das Pfeifen zu lernen, sich gegenseitig zuzuhören und es weiterzugeben. Dieses gemeinsame Lernen, Zuhören und Weitergeben lässt sich auch mit der Metapher des Fadenspiels der feministischen Wissenschaftstheoretikerin und Biologin Donna Haraway umschreiben. Die Weitergabe von Erfahrungen, Geschichte(n) und Erinnerung(en) beschreibt diese wie folgt: „Im Spiel mit Fäden geht es um das Weitergeben und In-Empfang-Nehmen von Mustern, um das Fallenlassen von Fäden und um das Scheitern, aber manchmal auch darum, etwas zu finden, das funktioniert, etwas Konsequentes und vielleicht sogar Schönes; etwas, das noch nicht da war, ein Weitergeben von Verbindungen, die zählen; ein Geschichtenerzählen, das von Hand zu Hand geht, von Finger zu Finger, von Anschlussstelle zu Anschlussstelle – um Bedingungen zu schaffen, die auf der Erde, auf Terra, ein endliches Gedeihen ermöglichen. Fadenspiele erfordern, dass man stillhält, um zu empfangen und weiterzugeben“ (Haraway 2018: 20). Haraway geht es dabei um ein artenübergreifendes Mit-Werden (ebd.: 23) und das Spinnen von Verbindungen, Anschlussstellen und Beziehungsweisen mit denen ein Netz spekulativer Fabulationen und Narrative – als Ort(e) der Gegen-Begegnung – in den Fokus rückt.
Abb. 2 Im Nachklang Skulptur 1, Havîn Al-Sîndy 2024
Das Ringen um (Un-)Sichtbarkeit
Eine Begegnung mit der Installation beginnt im Ausstellungskontext über das Betreten der Bodenzeichnung. Erst durch das Betreten wird ein In-Kontakt-Treten mit der Installation tatsächlich möglich. Das heißt, Besucher*innen müssen eine Entscheidung treffen. Die Entscheidung, Teil der Installation zu sein oder diese eben nicht vollständig zu erfassen. Um die Installation vollständig zu erfassen, müssen Besucher*innen zunächst die Verantwortung dafür übernehmen, die Zeichnung zu verändern, sie zu zerstören und sie damit neu auszurichten. Als Biologin und Künstlerin interessiert Havîn Al-Sîndy eben dieses widersprüchliche Ringen um (Un-)Sichtbarkeit und Verantwortung in sozialen und ökologischen Beziehungsweisen sowie Resonanzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern. Ausgehend von ihren mikroskopischen Aufzeichnungen der Symbiose eines Mykorrhiza-Pilzes mit dem Wurzelwerk eines Baumes und dem daraus entstehenden Kommunikationsnetz zwischen Bäumen (vgl. Lamm 2022; Helgason et al. 1998) sind Al-Sîndys Bodenzeichnungen für den Ausstellungskontext entstanden. Die Überlagerungen der Linien weisen dabei eindrücklich auf die vernetzende und zugleich (un-)sichtbare Struktur von Wurzelwerk und Pilz hin. Beim Betreten der Zeichnung erleben die Besucher*innen, dass das Überschreiten dieser Grenzen als Eingriff und als Mit-Werden in ein bestehendes System – das der Installation – erfahren werden kann. Der Wunsch nach vollständigem Erfassen der Installation stellt zugleich eine Sichtbarkeit her und verhindert eben diese durch die eigene Präsenz innerhalb der Installation. Die Grafit-Zeichnung auf dem Boden wird im Laufe der Zeit mit den Spuren der Besucher*innen entweder verschwinden oder sich intensivieren. Die Zeichnungen verteilen sich im Raum, überwachsen den Boden, suchen sich, über die Grenzen des Raumes hinweg, einen Weg hinaus – ähnlich wie ein Pilz. Die Schichten der Zeichnungen tragen sich zudem durch die Bewegungen der Besucher*innen ab, wodurch die nächste, vorher unsichtbare Schicht der Zeichnung sichtbar wird und sich mit den Spuren der Besucher*innen zu einem neuen Muster wandelt. Neben diesen Mustern, weben auch die KI-Skulpturen, entlang ihrer Bewegungen durch den Raum, neue Muster in die Zeichnungen ein, verbergen die Zeichnungen oder machen Ausschnitte sichtbar. Das heißt, die Besucher*innen erleben, wie die KI-Roboter die Zeichnung des Pilzes ver- und aufdecken, weitertragen, sie verändern und in sie intervenieren, ähnlich wie sie selbst. Aus dieser Korrespondenz heraus wird die Begegnung mit den KI-Skulpturen zu einer Möglichkeit, den eigenen Standpunkt zu erkennen.
Sich im Muster erkennen, es bilden, halten und weitergeben
Al-Sîndys Installation Resonanz. Im Nachklang eröffnet einen Rahmen, in dem Verbindungen aufgebaut werden können und das Zusammenfügen und Zusammengefügt-Sein zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern als Begegnung erfahrbar wird. Die Begegnung mit der Zeichnung kann zudem als eine Begegnung unter Fremden beschrieben werden – als Gegen-Begegnung –, oder mit Garcés, „gemeinsam zu lernen, bedeutet auch, all dem zu begegnen, was wir von den anderen und den Menschen und Dingen um uns herum nicht wissen und verstehen. Das Unverständliche reist mit uns mit, wie an unserer Haut klebend, sagten wir, aber öfter reduziert es sich auf das Unverständnis, das ausschließt, stigmatisiert und beschämt, ausbeutet, kodifiziert und zerstört“ (Garcés 2022: 173). Die Künstlerin fordert uns als Besucher*innen und mit dem Betreten ihrer Installation also explizit dazu auf, ein Bewusstsein für genau diesen Widerspruch im (Un-)Verständnis zu entwickeln. Eine Begegnung mit ihrer Installation bedeutet folglich, sich im Sinne Haraways verwandt zu machen: sich im Muster zu erkennen, es zu bilden, zu halten und weiterzugeben. Mit Havîn Al-Sîndys Einladung geht zudem einher, uns sowohl als Teil ihrer Installation zu begreifen als auch ein Bewusstsein dafür zu haben, in ein bestehendes System zu intervenieren und nicht genau erahnen zu können, ob wir es damit zerstören, irritieren oder erweitern werden. Es geht also um ein Bewusstsein für Gegenseitigkeit, Vergänglichkeit und Verantwortung. Denn wie Haraway formuliert: „Es ist von Gewicht, mit welchem Anliegen wir andere Anliegen denken. Es ist von Gewicht, mit welchen Erzählungen wir andere Erzählungen erzählen. Es ist von Gewicht, welche Knoten Knoten knoten, welche Gedanken Gedanken denken, welche Beschreibungen Beschreibungen beschreiben, welche Verbindungen Verbindungen verbinden. Es ist von Gewicht, welche Geschichten Welten machen und welche Welten Geschichten machen“ (Haraway 2018: 23). Ihr zufolge sind Fadenspiele und das gemeinsame Produzieren von Mustern daher Praktiken des Denkens und des Handelns. Und mit Bezug zu der performativen Installation Resonanz. Im Nachklang zeigt sich, dass die Begegnung mit dieser ebenso wenig eine unschuldige Geste sein kann, genauso wenig wie es der Besuch in einem Wald oder das Erlernen des Pfeifens ist. Stattdessen bewegen wir uns in Al-Sîndys Installation mit jeder Begegnung erneut in diesem Widerspruch des (Un-)Verständnisses.
Denn nicht nur mit der Bodenzeichnung wird diese Art der Begegnung unter Fremden eröffnet, auch in der Begegnung mit den KI-Skulpturen reist das Unverständnis erneut mit uns mit und fordert uns als Besucher*innen heraus, unsere Position zu reflektieren. Die Künstlerin selbst versteht die Skulpturen als Erweiterung ihrer Zeichnungen des Pilzes: als hybride Form zwischen Zeichnung und Skulptur. Vielleicht sind es Figuren, die die verschiedenen Ebenen der Installation (Zeichnung, Skulptur, Video, junge Menschen, Pilze, Wald, Besucher*innen) miteinander in Beziehung setzen und das In-Kontakt-Treten mit den Besucher*innen aktiv initiieren.
Wird erneut Haraway hinzugezogen, könnten die KI-Skulpturen als Trickster bezeichnet werden. Trickster entziehen sich einem dualen Wissensverständnis. Stattdessen versteht Haraway sie als Metapher dafür, eine Begegnung mit unterschiedlichen Wissenskonstruktionen zu beschreiben und zu hinterfragen. Sie formuliert: „I tried to address this in my notion of, situated knowledge’ which, with the Coyote, brings in another set of story cycles, where there is a resistance and a trickster, producing the opposite of – or something other than – what you thought you meant. Some kind of operator that tricks you, which is what I suppose the unconscious does” (Haraway 1990: 15). Die Figur des Tricksters wird von ihr als Akteur*in verstanden, die die Aufmerksamkeit fokussiert, indem sie sich dem dualen Wissensverständnis nicht nur entzieht, sondern es auf den Kopf stellt – es ad absurdum führt. Die Denkfigur des Tricksters verbindet vielmehr Differenzen und Widersprüche miteinander, gerade weil damit binäre Konzeptualisierungen als Bestandteil von Herrschaftslogiken und -praktiken über all jene identifizierbar werden, die, mittels dualistischer Darstellungen, als „Andere“ konstruiert werden (Haraway 1985/1995: 67). Al-Sîndy stellt diese teilweise unvereinbaren Widersprüche und Differenzen in ihren hybriden pilzförmigen Zeichnung-KI-Skulpturen nebeneinander, statt sie zu vereinheitlichen und zu homogenisieren. So verstanden handelt es sich bei den KI-Skulpturen nicht nur um eine Erweiterung der Zeichnung des Pilzes, vielmehr wird mit diesen Wesen auch das Prinzip der mycelartigen Vernetzung aufgegriffen: Als ein in Kommunikation tretender, ein Netz herstellender, Beziehungsweisen aufbauender Organismus, der sich ausgehend von Bewegungen, Veränderungen und äußeren Einflüssen orientiert und weiterentwickelt. Und im Kontext der Installation passiert dies ausgehend von Interventionen und Körpern im Raum. Als Zwischenwesen reagieren die Pilz-Skulpturen auf Berührungen und interagieren ausgehend von einer Berührung mit der Soundfrequenz der pfeifenden Jugendlichen in der Videodokumentation sowie mit dem Pfeifen der Besucher*innen im Ausstellungsraum (sofern diese die gleiche Frequenz wie die jungen Menschen treffen). Das Pfeifen wird von den KI-Skulpturen verarbeitet, gespeichert und an die anderen Pilz-Skulpturen weitergegeben, dabei entwickeln sie ein eigenes Sprachsystem ausgehend von den Frequenzen und Melodien, die sie aufnehmen. Garcés beschreibt einen solchen Prozess als Zusammenstellung: „Eine Zusammenstellung ist, wie eine musikalische Komposition, eine neue Realität, die aus den Beziehungen entsteht, die sie bilden. Es besteht keine Notwendigkeit, sie zu vereinheitlichen, sie nimmt sie auf und setzt sie in sinnvolle Beziehungen“ (Garcés 2022: 176). Diese Komposition zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern der Performance der Jugendlichen im Wald wird im Ausstellungsraum mittels der pilzartigen Skulpturen aufgegriffen und weitergegeben.
Abb. 3 Im Nachklang Ausstellungsanischt Kunstmuseum Bochum, Havîn Al-Sîndy 2024
Gegen-Begegnungen inszenieren
Die Künstlerin inszeniert die Begegnung unter Fremden gleichwohl in ihrer vieldimensionalen Widersprüchlichkeit als Gegen-Begegnung. Entlang ihrer Trickster-Skulpturen wird ein Raum der Möglichkeit des Unmöglichen eröffnet, wie es die Kunstvermittlerin und Kuratorin Nora Sternfeld formulieren würde. Sie leitet diesen Begriff als Raum der Kritik im Foucault’schen Sinne her (Sternfeld 2009: 129). Wird den KI-Skulpturen das Potenzial zugeschrieben, bestehende Machtmechanismen kritisch auf ihre Machteffekte hin zu befragen, könnte im Anschluss an Michel Foucault formuliert werden, dass die pilzartigen Wesen eine reflektierte Unfügsamkeit (Foucault 1978/1992: 9) produzieren, mit der Funktion der Entunterwerfung (Foucault 1978/1992: 9), um, wie Foucault formuliert, „die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin“ (Foucault, 1978/1992, 9). Ihm zufolge gilt es also, die beweglichen Skulpturen „als eine Beziehung in einem Feld von Interaktionen zu betrachten, sie in einer unlöslichen Beziehung zu Wissensformen zu sehen und sie immer so zu denken, daß man sie in einem Möglichkeitsfeld und folglich in einem Feld der Umkehrbarkeit, der möglichen Umkehrung sieht“ (Foucault, 1978/1992, 25). Das heißt, die Widersprüche, mit denen die Künstlerin Havîn Al-Sîndy die Besucher*innen in ihrer Installation konfrontiert, wären als Ausgangspunkt von Beziehungsgefügen partialer Sichtweisen zu betrachten, die es entlang ihrer Interaktionen umzukehren gilt. Damit wird der Verweis wichtig, dass die Widersprüche in denen sich die Besucher*innen im Rahmen der Installation Resonanz. Im Nachklang bewegen nicht aufzulösen sind, sondern im Sinne der postkolonialen Literaturwissenschaftlerin und Pädagogin Gayatri Chakravorty Spivak die Gewalt aufzudecken vermögen, die mit ihnen einhergehen. Spivak beschreibt diese gewaltproduzierenden Widersprüche als double bind (Spivak 2012/2023: 31). Zusammengefasst wird damit von ihr eine nicht offengelegte Aporie unauflösbarer widersprüchlicher Anweisungen, die als Universalisierbarkeit des Singulären reproduziert wird. Ein double bind entsteht entlang antrainierter normierender Denkgewohnheiten und wirkt auf Einstellungen, Selbstverständnisse und Routinen ein. Spivaks Vorschlag den double bind entlang einer ästhetischen Erfahrung zu spielen, setzt gleichwohl voraus, dass eine ästhetische Erfahrung die Vorstellungskraft stärken und damit eine Form des Spiels vermittelt werden kann, durch das Risse und Widersprüche sicht- und verhandelbar werden.
Videoarbeit: Im Nachklang Ausstellungsanischt Galerie Crone, Havîn Al-Sîndy 2024
Al-Sîndys Installation spielt entlang der vielzähligen möglichen Begegnung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern mit diesen gewaltproduzierenden Widersprüchen, mit dem Ziel, das Bewusstsein der Besucher*innen für die (un-)sichtbaren Widersprüche zu aktivieren. Verstanden als „Wendepunkt von Ausrichtungen“ (Haraway 1995: 89), eröffnet die Umkehrung des Widerspruchs zunächst eine neue Perspektive auf die Widersprüche und macht sie sichtbar, indem das Nebeneinanderstehen widersprüchlicher Positionierungen als Möglichkeit erkannt werden kann. Universalistischen und machterhaltenden Setzungen, Vorgaben und Reproduktionen wird so ein möglicher Spielraum entgegengesetzt – um die Welt mitzugestalten. Die feministischen und antirassistischen Theoretikerin Sara Ahmed beschreibt dieses Mitgestalten der Welt als eine Politik des „Hap“: „A politics of the hap is about opening up possibilities for being in other ways, of being perhaps. If opening up possibility causes unhappiness, then a politics of hap will be thought of as unhappy. But it is not just that. A politics of the hap might embrace what happens, but it also works toward a world in which things can happen in alternative ways. To make hap is to make a world” (Ahmed 2019: 223). Resonanz. Im Nachklang macht nicht nur erfahrbar, wie Widersprüche als Möglichkeit erlebt werden können, sondern schärft die Aufmerksamkeit für das Zusammenleben unterschiedlicher Lebensformen entlang von Ungleichheitsverhältnissen und fragt nach den vielfältigen Ebenen von Gegenseitigkeit und Verantwortung innerhalb einer Begegnung.
Abb. 4 Im Nachklang, Zwei Videokanalarbeit – Videoausschnitt 5, Havîn Al-Sîndy 2024
Abb. 5 Im Nachklang, Zwei Videokanalarbeit – Videoausschnitt 3, Havîn Al-Sîndy 2024
Ahmed, Sara (2010): The Promise of Happiness. Durham: Duke University Press.
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